How to Legal Tech? Digitalisierungsstrategien für Kanzleien

Beitrag von: Ulrike Lüdke
27. April 2021

Chatbots, Smart Contracts, Big Data, Künstliche Intelligenz: Die technischen Möglichkeiten, die sich im Rechtsmarkt bieten, nehmen stetig zu. Damit steigt der Druck auf Sozietäten, die dem Digitalisierungstrend bislang noch nicht nachgegeben haben. Doch Aktionismus ist hier fehl am Platz. Ein strategischer Ansatz, der gezielt Effizienzsteigerungen in den Blick nimmt, verspricht dagegen Erfolg.

Legal Tech ist die Zukunft. Daran besteht für Tobias Ulbrich kein Zweifel. Ulbrich ist Mitgründer und Partner der Wirtschaftskanzlei Rogert & Ulbrich. Die ehemalige Kanzleiboutique für Transportrecht richtete sich 2015 neu auf die Interessenvertretung von Verbrauchern in Massenverfahren aus. Legal Tech ist dabei der zentrale Pfeiler des Geschäftsmodells. Keine acht Jahre ist es her, dass Rogert & Ulbrich die erste Mandantenakte digitalisierte. Schritt für Schritt wurden die IT-Systeme ausgebaut und miteinander verknüpft. Inzwischen ist die Kanzlei ein Legal-Tech-Unternehmen mit vollautomatisierten Prozessen und eigenen Softwareprodukten. In Zukunft soll Künstliche Intelligenz die Analyse von Texten wie Urteilen und Schriftsätzen gegnerischer Anwälte übernehmen und damit die Arbeit weiter erleichtern. Ulbrich hofft, schon bald die Erfolgswahrscheinlichkeit von Klagen berechnen zu können.

Fehlende Orientierung

Während Kanzleien wie Rogert & Ulbrich bereits daran feilen, Künstliche Intelligenz in die Prozesse ihrer Arbeit zu integrieren, wird in anderen Sozietäten noch vom Band getippt. Die Unterschiede im Digitalisierungsgrad innerhalb der Kanzleilandschaft sind enorm. Kanzleigröße und Geschäftsmodell spielen dabei sicherlich eine Rolle. Doch viele Kanzleien, die digitalisieren wollen, wissen nicht so recht, wo sie anfangen sollen. Nach einer Untersuchung von Wolters Kluwer unter 700 Juristen aus dem vergangenen Jahr gehen drei Viertel der Befragten davon aus, dass die Bedeutung von Legal Tech im Rechtsmarkt zunehmen wird. 43 Prozent der Befragten gaben jedoch an, dass organisatorische Aspekte, wie das Fehlen einer Technologiestrategie, die Einführung neuer Technologien verhinderten.

Von der Analyse zur richtigen Digitalstrategie

Legal-Tech-Expertin Sophie Martinetz wird häufig von ihren Kunden gefragt, welches Tool die Kanzlei oder die Rechtsabteilung kaufen solle, um den digitalen Anschluss nicht zu verpassen. Die Antwort sei stets die gleiche, berichtet Martinetz: „Welches Problem soll das Tool lösen?“ Dies sorge häufig erst einmal für Verwirrung.

„Bei der Entwicklung einer digitalen Strategie geht es zunächst darum, sich in einer Selbstanalyse einen Überblick über die Situation in der Kanzlei zu verschaffen“, erklärt Martinetz. Die Juristin ist Gründerin von Future Law, einer unabhängigen österreichischen Plattform für Legal Tech und Digitalisierung im Rechtsbereich, und unterstützt Rechtsabteilungen und Kanzleien bei der Strategiefindung und der Auswahl der passenden Legal Tech Tools. Neben einer Workflow-Analyse, die den Arbeitsprozess von der Beauftragung bis zur Abrechnung in einzelne Arbeitsschritte zerlegt, muss das Potenzial für Effizienzsteigerungen geklärt werden: Was sind die Kernaufgaben? Welche Projekte sind eher selten und anspruchsvoll, welche gehören zum „Brot-und-Butter-Geschäft“? Welche Leistungen lassen sich standardisieren und eventuell mit einem Legal Tech Tool skalieren? „Erst dann machen Überlegungen Sinn, wie die technische Unterstützung aussehen könnte“, weiß Martinetz. Legal Tech sei kein IT-Thema, sondern in erster Linie ein Strategiethema. Eine schlechte Strategie als Input habe zwangsläufig immer einen schlechten Digitalisierungsprozess als Output zur Folge.

Unterschiedliche Ansätze, ein Ziel

Ist die Analysearbeit getan, lässt sich daraus die Digitalstrategie ableiten. Insa Janßen vom Legal Tech Start-up Legal OS unterscheidet zwischen vier grundsätzlichen Ansätzen:

  1. „WAIT AND SEE“: Die Kanzlei verschafft sich einen Marktüberblick, beobachtet, wie die Konkurrenz agiert, und wartet den richtigen Zeitpunkt für einen Strategiewechsel ab.
  2. „PLUG & PLAY“: Standard-IT-Lösungen werden eingekauft. Das spart Zeit, schränkt allerdings die Anwendungsmöglichkeiten ein.
  3. „CO-CREATE“: Gemeinsam mit Spezialisten werden bestehende IT-Tools adaptiert oder neue Lösungen entwickelt.
  4. „INSOURCE AND BUILD“: Bei dieser Luxusvariante entwickelt ein Kanzlei-eigenes Spezialistenteam passgenaue IT- und Legal-Tech-Lösungen.

Alle vier Strategien hätten laut Janßen ihre Berechtigung. Nicht jede Kanzlei müsse gleich ein Legal-Tech-Unternehmen werden.

Prozesse analysieren und optimieren

Die Mittelstandkanzlei Härting ist seit sechs Jahren voll digitalisiert. Vorangegangen war diesem Schritt die Umstellung der gesamten Arbeitsabläufe, der Dokumentenverwaltung, der Aktenführung und der Korrespondenz. Ein halbes Jahr lang plante eine Arbeitsgruppe unter Kanzleichef Niko Härting die Umstellung „generalstabsmäßig“, bevor Ende 2014 der Schalter umgelegt wurde. Seitdem kommt Papier nur noch in Ausnahmefällen zum Einsatz, auf ausdrücklichen Wunsch des Mandanten und, falls nötig, für die Korrespondenz mit den Gerichten.

„Wir haben uns die Arbeitsabläufe im Vorfeld sehr genau angeschaut und uns von den Mitarbeitern erklären lassen, wie sie im Tagesgeschäft arbeiten“, berichtet Härting. Projekte und Arbeitsprozesse mussten in einzelne Schritte zerlegt und dokumentiert werden. Als Nächstes wurden die Prozesse optimiert und neu strukturiert. Ein Jahr lang arbeitete die Arbeitsgruppe an der Umsetzung, sämtliche Mitarbeiter mussten geschult und unzählige Akten eingescannt werden. „Es ist wichtig, offen zu sein und nicht von vornherein mit fertigen Konzepten zu arbeiten“, erklärt Härting. „Wir haben uns gefragt, wie die Abläufe und die Arbeit in der Kanzlei idealerweise funktionieren sollten. Erst danach fiel die Entscheidung für die neue Soft- und Hardware.“

Potenziale aufspüren und ausschöpfen

Die Wirtschaftskanzlei Görg hat bereits zwei Legal-Tech-Projekte mithilfe externer Legal-Tech-Spezialisten umgesetzt. Görg arbeitet mit einer eigenen Softwarelösung zur Unterstützung arbeitsrechtlicher Restrukturierungsmaßnahmen. Aus importierten Daten kann der Mandant einen Vorschlag für ein möglichst rechtssicheres Sozialauswahlergebnis generieren und sich die Kosten kalkulieren lassen. Ein weiteres Tool dient dazu, die Gläubiger in einem Pool während eines Insolvenzverfahrens zu verwalten und am Ende die Quotenausschüttung mit dem Warenkreditversicherer abzustimmen.

Sandra Schäfer ist seit 2011 Leiterin der Anwendungsberatung und IT-Trainerin bei Görg. Zu ihren Aufgaben gehört es, Verbesserungspotenziale für Anwendungslösungen innerhalb der Kanzlei zu entdecken und auszuschöpfen. „Wir überprüfen immer wieder unsere Prozesse und überlegen, ob sich weitere Legal-Tech-Projekte daraus ableiten lassen“, sagt Schäfer. „Das können Leistungen für unsere Mandanten sein oder Lösungen, die uns innerhalb der Kanzlei die Arbeit erleichtern.“ Wichtig sei, dass eine klare Strategie, Entscheidungswege und ein entsprechendes Budget definiert seien, aus denen sich konkrete und realistische Ziele sowie entsprechende Milestones ableiten ließen. Der Bedarf sei hier Treiber des Handelns.

Von der Projektarbeit zur Vollautomatisierung

Bei Rogert & Ulbrich wird längst nicht mehr in Projekten gedacht, sondern in Produktionsstraßen. Aus der Rechtsdienstleistung ist ein industrielles Produkt geworden. Alle Arbeitsschritte sind komplett digitalisiert und prozessgesteuert: von der vollautomatischen Aktenanlage bis zur Erstellung von individualisierten Schriftsätzen. Mandanten können per Login Einsicht in ihre Online-Akte nehmen und selbst Schriftstücke hinzufügen. 13 der insgesamt 86 Mitarbeiter kümmern sich ausschließlich um die Soft- und Hardware. „Die Qualität der Arbeit, die Legal Tech ermöglicht, ist viel besser als das, was ein einzelner Anwalt leisten kann“, so Ulbrich. Grundsätzlich hält er jedes Rechtsgebiet für Legal-Tech-Anwendungen geeignet: „Jeder Fachanwalt hat wiederkehrend mit gleichartigen Fällen und ähnlichen Abläufen zu tun.“ Fast jede Rechtsdienstleistung lasse sich mit Legal Tech automatisieren.

Fehler erlaubt

Wem der Mut zu so viel Risiko fehlt, der kann auch erst einmal klein anfangen. Für den Beginn empfiehlt Schäfer, zunächst ein kleineres Legal-Tech-Projekt auf den Weg zu bringen, um Erfahrungen zu sammeln und schnell zu ersten Erfolgserlebnissen zu kommen. Das motiviere und mache Lust auf mehr. Aber der Erfolg ist nicht garantiert: Ohne ein gewisses Maß an Risikobereitschaft gehe es trotz aller Sorgfalt nicht. „Rückschläge in der Produktentwicklung sind möglich und sollten auch toleriert werden“, sagt Schäfer.

Für die Umsetzung der Legal-Tech-Strategie empfiehlt Expertin Martinetz Kanzleien, sich an den Prinzipien des agilen Projektmanagements zu orientieren: Statt eines langfristigen fixen Maßnahmenplans werden die Projekte regelmäßig in kurzen Abständen evaluiert und neu definiert. Gerade durch das im Bereich der Digitalisierung hohe Maß an Unsicherheit sei es erforderlich, Projekte regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen, sie zu verändern oder manchmal zu beenden, sagt Martinetz. Doch gerade das dürfte so mancher Kanzlei schwerfallen: „Dieser Zugang ist für viele Juristen ungewohnt und stellt eine große Herausforderung dar“, so Martinetz.

Illustration: Stefanie Schwary

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