Kanzleisoftware: Wenn die Wahl zur Qual wird

Beitrag von: Ulrike Lüdke
24. September 2020

Die Software bestimmt wesentlich, wie gut die Arbeitsabläufe in einer Kanzlei funktionieren. Im Idealfall lassen sich dadurch die Prozesse in der Kanzlei optimieren, was die Effizienz erhöht und bei Mitarbeitern und Mandanten für Zufriedenheit sorgt. Nicht zuletzt verbessert sich so die Performance der Kanzlei. Gleichwohl zögern Kanzleien den Softwarewechsel oft hinaus. Der Grund: Die Auswahl und die Implementierung einer neuen Software sind eine Herkulesaufgabe.

„Wir haben schon bei der ersten Recherche gemerkt, dass wir das allein nicht schaffen“, berichtet Jens Haubold, Mitglied des dreiköpfigen geschäftsführenden Ausschusses der Wirtschaftskanzlei Thümmel Schütze & Partner (TSP) und verantwortlicher Partner für die Auswahl und Einführung der neuen Software im Haus. Die alte Software der Kanzlei stammte noch aus den 90er Jahren und basierte ursprünglich auf DOS. Mehrfach hatten sich die Partner von TSP schon verschiedene Softwarepakete angeschaut, die Entscheidung dann aber doch zurückgestellt. Vor vier Jahren wurde der Leidensdruck mit dem alten System dann doch zu groß, eine neue Anwendung musste her. Doch wo anfangen?

Dynamischer Markt

Der Markt für Kanzleisoftware ist unübersichtlich, die Auswahl groß und zeitintensiv, die Kosten für eine Umstellung sind i.d.R. hoch. Neben den großen Anbietern wie RA Micro, Anno Text, Datev und Reno Star/Reno Flex, die den Markt dominieren, existieren zahlreiche kleine Anbieter. Kanzleien müssen sich in einer Vielzahl von Programmen mit unterschiedlichem Umfang und Kompatibilitäten zurechtfinden.

Rechtsanwalt und Softwareexperte Dr. Andreas Schnee-Gronauer hat über 60 Anbieter von Kanzleisoftware in Deutschland identifiziert. 32 Programme hat er in einer aktuellen Untersuchung analysiert. Sein Fazit: Der Markt ändert sich dynamisch und grundlegend. „Es entstehen gerade zahlreiche neue Anbieter, die neue Impulse in den Markt bringen. Viele der neuen Programme bieten Unterstützung sowohl für mobiles als auch für Cloud-basiertes Arbeiten“, stellt Schnee-Gronauer fest. Zeiterfassung und Abrechnung seien heute bei den meisten Programmen Standard, ebenso wie automatisierte Mahnläufe in festgelegten Zeitintervallen.

Ein Patentrezept für die Auswahl von Software kann er allerdings nicht bieten. Ausgehend vom Geschäftsmodell müsse jede Kanzlei sehr sorgfältig ihre Prozesse analysieren und daraus ihre Anforderungen an die Software definieren, so Schnee-Gronauer.

Von der Stange oder tailor-made?

Die Kanzlei TSP gründete für ihren Auswahlprozess eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Rechtsanwälten und Sekretariatsmitarbeitern, und formulierte zunächst einmal einen breiten Leistungskatalog: „Wir wollten eine Software, die nicht nur die klassischen Tätigkeiten einer Kanzlei abbildet, sondern auch verschiedene Steuerungsfunktionen hat, wie eine moderne Zeiterfassung und Auswertungsmöglichkeiten für die Performance“, erklärt Haubold. Zudem zog die Kanzlei die unabhängige Kanzleiberaterin Ilona Cosack hinzu. Sie kennt den Markt für Kanzleisoftware seit über 30 Jahren, gemeinsam mit ihr wurden die Auswahlkriterien priorisiert.

Im nächsten Schritt wurde geklärt, ob für die Wirtschaftskanzlei mit rund 100 Mitarbeitern ein Standardprodukt infrage kommt oder ob eine individuelle Software programmiert werden sollte. TSP entschied sich für eine Software von der Stange. „Die Entwicklung einer eigenen Software hätte einfach zu viele Kapazitäten gebunden und wäre zu kostspielig geworden“, erklärt Haubold. Gemeinsam mit Cosack erstellte die Arbeitsgruppe eine Short List aus vier Anbietern, die zur Präsentation eingeladen wurden. „Uns war beim Auswahlprozess wichtig, dass wir die Software vor Ort selbst testen konnten. Dabei zeigten sich signifikante Unterschiede, die in der Demoversion nicht ersichtlich waren“, berichtet Haubold. Zwei Programme blieben übrig, am Ende entschied der Preis.

Seit Oktober vergangenen Jahres ist die neue Software Anno Text von Wolters Kluwer in Betrieb. Sie basiert auf dem Betriebssystem Windows und verfügt über ein Dokumentenverwaltungssystem, eine Datenbank und eine Schnittstelle zum E-Mail-System Outlook, eine automatische Abrechnungseinheit, Möglichkeiten zur Zeiterfassung und Budgetüberwachung sowie über eine Schnittstelle zur Buchhaltung. Der Datentransfer in das neue System – typischerweise ein neuralgischer Punkt bei der Softwareumstellung – funktionierte problemlos.

Im Wesentlichen ist Haubold mit der neuen Software zufrieden. Ausgenommen: An der Schnittstelle zur Buchhaltung klemmt es. Bei der Übertragung von Daten aus den Akten der vier verschiedenen Standorte der Kanzlei in das Buchhaltungssystem ist im Moment noch viel Handarbeit nötig. Doch daran werde gerade gearbeitet, so Haubold. Eine stärkere Automatisierung, die über das Management von Büroabläufen hinausgeht, ist mit der neuen Software nicht möglich, denn die Grundstruktur der Software ist statisch.

Problem: Schnittstelle

Kanzleimanagementprogramme sind i.d.R. in sich geschlossene Systeme. „Die wenigsten der traditionellen Kanzleiorganisationslösungen haben funktionierende Schnittstellen zur Verknüpfung mit anderen Tools“, weiß Legal-Tech-Berater Dr. Gernot Halbleib. Wenn man an die Schnittstellen ranwolle, müsse man Standardsoftwareprogramme sehr stark „aufbohren“. Das sei teuer, mit Risiken verbunden und ein Grund, warum ein höherer Grad der Automatisierung in vielen Kanzleien nur schwer erreicht werden könne, sagt Halbleib.

Zukunftsversprechen

Was heute noch nicht oder nur unter großen Mühen gelingt, soll in absehbarer Zeit Standard sein, verspricht Ralph Vonderstein, Geschäftsführer und Leiter des Geschäftsbereichs Legal Software bei Wolters Kluwer Deutschland. So soll die kommende Generation von Kanzleisoftware den Einsatzbereich deutlich erweitern und sämtliche Stufen der anwaltlichen Wertschöpfung umfassen. „Den bereits heute etablierten Kanzleiorganisationslösungen, oftmals ausschließlich genutzt für die administrativen Verwaltungstätigkeiten der Kanzlei, wird dabei eine neue Rolle als die zentrale Datenquelle jeder Kanzlei zuteilwerden. Über offene Schnittstellen werden diese Systeme das Rückgrat einer hochgradig performanten, agilen und vernetzten Organisation sein“, so Vonderstein in einem Beitrag zur Studie „Future Ready Lawyer 2020“.

Doch das ist Zukunftsmusik. „Am Beispiel der Einführung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) sieht man, dass die Entwicklung nur langsam voranschreitet“, sagt Cosack. „Hier funktioniere nicht einmal die Schnittstelle zu den Kanzleisoftwareanwendungen, geschweige denn zu irgendeiner weiterentwickelten Software“, kritisiert die Beraterin. Andreas Schnee-Gronauer konstatiert zwar, dass die Softwarehersteller in den vergangenen Jahren einen großen Sprung gemacht hätten, sieht bei den Standardlösungen aber noch Verbesserungspotenzial: Insbesondere bei größeren Einheiten, die mehr betriebswirtschaftliche Steuerung benötigten, funktionierten die Auswertungen zur Auslastung der Kapazitäten und zur Realisierung von Stundensätzen allenfalls rudimentär. „Je schwieriger die Aggregation, desto mehr Programme steigen aus“, sagt Schnee-Gronauer. Zudem hätten nur etwa 30 Prozent die Personalverwaltung mit Urlaubsplanung und Vertretungsregelungen schon eingebaut. Verbindungen zur Fristenberechnung und zum Controlling fehlen z.T. ganz. Auch beim automatisierten Austausch strukturierter Daten mit dem Mandanten, bspw. im Debitorenmanagement, gibt es nach Ansicht Schnee-Gronauers noch viel Luft nach oben.

Eine weitere Herausforderung steht in sechs Jahren an: Ab 2026 werden die Gerichte elektronische Akten führen müssen. Es wird auch darüber diskutiert, dass Anwälte mit den Gerichten über strukturierte Cloud-Lösungen kommunizieren sollen. „Spätestens dann werden wir mit ganz anderen Softwarelösungen arbeiten müssen“, prognostiziert Cosack.

Also besser erst einmal die weitere Entwicklung abwarten? „Davon rate ich ab. Das dauert zu lang“, sagt Cosack. Noch immer treffe sie auf Kanzleien, die mit Windows XP arbeiteten oder alte Office-Versionen im Einsatz hätten. Cosack empfiehlt, auch aus Sicherheitsgesichtspunkten, mit den aktuellen Betriebssystemen zu arbeiten und auch die für das beA benötigten Programme und Softwaretreiber immer aktuell zu halten. Auch Schnee-Gronauer warnt davor, Entscheidungen zur Investition in eine neue Software auf die lange Bank zu schieben: „Für die Performance der Kanzlei wird die Software immer wichtiger.“

Automatisierung ist nicht gleich Legal Tech

Wer allerdings glaubt, er sei mit einer neuen modernen Kanzleimanagementlösung schon in Richtung Legal Tech unterwegs, liegt falsch. Legal-Tech-Programme haben mit den etablierten Kanzleimanagementlösungen nichts gemeinsam. Während es bei Letzteren um die Automatisierung der Arbeitsprozesse geht, ermöglichen Legal-Tech-Programme die Automatisierung der juristischen Arbeit. Mithilfe spezieller Anwendungen wird komplexes juristisches Fachwissen in strukturierte Arbeitsabläufe unterteilt, die dann in Form von Frage-Antwort-Dialogen durchgespielt werden. Lediglich bei hochspezialisierten Kanzleien mit einer großen Zahl an Standardvorgängen lohnt sich die Entwicklung eines individuellen „Case-Management-Systems“. „Diese Kanzleien haben i.d.R. eine eigene Entwicklerabteilung und ein auf Automatisierung basierendes Geschäftsmodell“, erklärt Halbleib. Zudem funktioniere die Automatisierung juristischer Arbeitsabläufe nur dann, wenn die erfahrensten Berufsträger ihr Wissen in das Computersystem übertragen würden. Es reiche nicht aus, eine Software zu kaufen oder eine IT-Agentur zu beschäftigen. „Der größte Teil des Investments in Legal Tech sind Opportunitätskosten von Leistungen, die in der Kanzlei selbst erbracht werden müssen“, so Halbleib.

Bei TSP sei das Grundvolumen an sich wiederholenden juristischen Vorgängen für ein selbstlernendes System zu gering, stellt Haubold fest. Die Kanzlei berät vor allem mittelständische und große Unternehmen und ist eher breit aufgestellt. Daher steht das Thema Legal Tech vorerst nicht auf der Agenda. Im Moment hat erst einmal die Automatisierung der Büroorganisation Vorrang. „Da gibt es noch viel Verbesserungspotenzial“, sagt Haubold. Ein Kernteam aus IT-affinen Mitarbeitern und dem Leiter der IT-Abteilung schaue sich gerade die Arbeitsabläufe in der Kanzlei an und entwickele einen Anwenderleitfaden. „Unsere nächste Herausforderung ist es, unsere Mitarbeiter für das neue System zu begeistern“, erklärt Haubold. Schließlich sollen sie die Möglichkeiten der neuen Software auch ausschöpfen, damit sich die Investition lohnt.

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