Für Unternehmen aus stark von der Corona-Krise belasteten Branchen wird es nach Einschätzung von André Schröer, Partner bei der M&A-Beratung Livingstone, noch länger dauern, bis sich wieder attraktive Bewertungen erzielen lassen. Darauf zu warten ist aber nicht immer die bessere Strategie.
Herr Dr. Schröer, seit Mai ist die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht Geschichte. Kommt es zur kolportierten Pleitewelle und damit auch zu mehr Distressed-M&A-Transaktionen?
André Schröer: Ich gehe nicht davon aus, dass die Insolvenzzahlen deutlich anziehen werden. Die Unternehmen haben vor der Krise ordentlich verdient und im Zuge der Krise von üppigen Staatshilfen profitiert. Flächendeckende Liquiditätsschwierigkeiten existieren nach meiner Wahrnehmung nicht. Zudem ist die vorinsolvenzliche Sanierung durch die Einführung des StaRUG Anfang des Jahres einfacher geworden. Wir werden also viel mehr Sanierungen sehen, bevor in Schwierigkeiten geratene Unternehmen den Gang zum Insolvenzrichter antreten müssen. Dass ein Unternehmen ungebremst in die Insolvenz schlittert, dürfte nur noch selten der Fall sein. Am ehesten sehe ich das bei kleineren Unternehmen ohne nennenswerte finanzielle Puffer.
Corona hat den M&A-Markt in den vergangenen Monaten ordentlich durchgeschüttelt. Wie ist die Stimmungslage derzeit?
AS: Verhalten optimistisch, würde ich sagen. Wir registrieren deutlich mehr Anfragen als noch vor Jahresfrist. Es gibt ja nicht nur Corona-Verlierer, sondern auch viele Branchen, die nicht tangiert wurden oder sogar profitiert haben – die seit Monaten stark steigenden Börsen zeigen ein klares Bild der Erholung.
Rechnen Sie mit einem Nachholeffekt bei den Transaktionszahlen und wenn ja, wann kommt der?
AS: Davon gehe ich sicher aus, der „Ketchupflaschen-Effekt“ wird kommen. Wir hatten im Februar und März des vergangenen Jahres in der Breite sehr viele Anfragen. Ein Teil ist wegen Corona verschoben worden. Mit einem weiter rückläufigen Pandemiegeschehen werden sich viele Märkte auch normalisieren und die verschobenen Projekte werden wiederkommen. Dies merken wir bereits. Es wird aber sicher Unternehmer geben, die das Bilanzjahr 2021 abwarten und Mitte 2022 oder erst 2023 an den Markt gehen.
In einigen Branchen sind die Bewertungen stark gestiegen und sie steigen weiter. Ist das aus Ihrer Sicht nachhaltig?
AS: Der Anstieg der Bewertungen basiert auf verschiedenen Ursachen: Eine ist sicher die hohe Verfügbarkeit von Liquidität im Markt bei zugleich fehlenden Anlagemöglichkeiten. Darüber hinaus sind Branchen und Geschäftsmodelle begehrt, die von den Megatrends Digitalisierung, Gesundheit oder Industrie 4.0 profitieren. Generell werden für Unternehmen, die deutliche Umsatz- und Ergebniswachstumsraten ausweisen, sehr hohe Preise bezahlt. Schwieriger sind die Rahmenbedingungen für Unternehmen in den Branchen, die stärker von Corona beeinflusst sind. Dort wird es länger dauern, bis wieder attraktive Bewertungen zu erzielen sind.
Ein Thema der vergangenen Monate sind die deutlich voneinander abweichenden Preisvorstellungen zwischen Käufern und Verkäufern. Lassen sich Käufer bei der Kaufpreisermittlung auf Corona-bereinigte EBITA-Multiples ein?
AS: Das kann man nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Die Bewertung von Unternehmen durch die Käufer basiert ja nicht nur auf einem einzelnen Geschäftsjahresergebnis. Vielmehr bewerten Käufer die zukünftige Entwicklung und spiegeln diese gegen eine historische Performance. Eine willkürliche Bereinigung ohne klare Fakten wird – und sollte – ein Erwerber nicht mitgehen, sondern er wird eine Plausibilisierung der Planung vornehmen und dabei die Sondereffekte der Vergangenheit wie durch Corona berücksichtigen.
Ist eine Earn-out-Klausel für Unternehmen, die derzeit unter Corona-Effekten leiden, eine Option?
AS: Absolut. Die Akzeptanz eines solchen erfolgsabhängigen Kaufpreisbestandteils bei Verkäufern wächst. In der Praxis hat sich dabei neben einer ertragsbasierten Bemessungsgröße auch der Umsatz als objektive nachprüfbare Bemessungsgröße etabliert.
Sollten Mittelständler, die derzeit nicht zu den begehrten Branchen gehören, besser noch abwarten und ihr Geschäftsmodell kalibrieren?
AS: Das hängt stark von der spezifischen Situation ab. Im Fall von Unternehmen aus eher traditionellen Branchen, bei denen in den vergangenen Jahren Investitionen liegen geblieben sind und unklar ist, ob dieser Rückstand aufgeholt werden kann, ist dies zumindest fraglich. Wenn die Auswirkungen der Corona-Krise sich über einige Zeit noch hinziehen werden, muss der Unternehmer sehr gut abwägen, ob er aus eigener Kraft einen Mehrwert durch reines Abwarten schaffen kann. Wer diese Frage nicht positiv beantworten kann, der sollte ernsthaft überlegen, ob ein Verkauf im heutigen Umfeld nicht doch die bessere Lösung ist – oder eine Restrukturierung einleiten und noch einmal aufs Gaspedal treten. In der Regel bringt es nichts als Verkäufer, nur auf bessere Zeiten zu warten.
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