Unsichere Zukunftsaussichten und strenge Kontaktbeschränkungen haben in der Corona-Pandemie die Personalplanung in den Kanzleien ganz schön auf den Kopf gestellt. Wie hat die Corona-Pandemie die Spielregeln im War for Talents verändert? Wer hat von der Krise profitiert? Und wie gut funktioniert der digitale Recruiting-Prozess?
Wir haben lange nicht mehr so gute Bewerbungen erhalten wie im vergangenen Jahr“, so beschreiben viele Kanzleien die Recruiting-Situation in der Corona-Pandemie. Auch die Anzahl der Bewerbungen von Berufseinsteigern habe durch die Corona-Krise zugenommen, heißt es. Horrende Einstiegsgehälter, großzügige Benefits und attraktive Weiterbildungsprogramme: Seit Jahren wird der Nachwuchs von den Kanzleien umgarnt. Absolventen mit Prädikatsexamen können sich ihre Arbeitgeber i.d.R. aussuchen. Im vergangenen Jahr sah es dann so aus, als hätte sich der Markt gedreht. Verunsichert durch die Corona-Pandemie verfielen viele Sozietäten erst einmal in eine Schockstarre. Vor allem internationale Großkanzleien verhängten Einstellungsstopps, froren die Gehälter ein, kürzten Boni. Wissenschaftliche Mitarbeiter erhielten die Kündigung und Einstellungstermine wurden verschoben. Auch Unternehmen fielen als möglicher Arbeitgeber erst einmal aus.
Weniger Jobangebote und mehr Bewerbungen
Die ungewöhnliche Situation am Arbeitsmarkt wussten insbesondere mittelständische Kanzleien und spezialisierte Boutiquen für sich zu nutzen, um im War for Talents aufzuholen. Nach einer Untersuchung zum Recruiting von Juristen des Magazins „Legal Tribune Online“ (LTO) vom Juni 2020 haben fast ausschließlich mittelgroße Kanzleien mehr Mitarbeiter als vor der Krise eingestellt. Vor allem in den Bereichen Arbeitsrecht, Insolvenzrecht, Gesellschaftsrecht, Restrukturierungen und Banking rüsteten die Kanzleien personell auf. Obwohl viele Recruiting-Maßnahmen zurückgefahren wurden, verzeichneten 40 Prozent der Kanzleien mehr Bewerbungen als vor der Krise, geht aus der LTO-Untersuchung hervor. Bei Kanzleien, die ihre Recruiting-Aktivitäten nicht zurückfuhren, lag die Quote demzufolge sogar bei 55 Prozent.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Umfrage der Karriereplattform für Juristen Talentrocket aus dem Oktober 2020. Demnach verzeichneten rund 60 Prozent der Arbeitgeber einen leichten oder extremen Anstieg an Bewerbungen sowohl von wissenschaftlichen Mitarbeitern und Referendaren als auch von volljuristischen Vakanzen. Den überproportionalen Anstieg von Bewerbungen führen die Studienautoren vor allem darauf zurück, dass sich die Jobsuchenden während der Corona-Krise bei deutlich mehr Arbeitgebern beworben hätten.
Zurückhaltung bei Top-Level-Kandidaten
Während die Anzahl der Bewerbungen insgesamt stieg, sank nach Beobachtungen von Kanzleien und Marktexperten die Bereitschaft hochqualifizierter Juristen, den Arbeitgeber zu wechseln. Die mittelständische Wirtschaftskanzlei Sonntag & Partner hat seit März 2020 über alle Standorte hinweg 96 neue Mitarbeiter eingestellt – darunter auch viele Praktikanten und Berufseinsteiger. Mit einem Team aus 380 Experten bietet Sonntag & Partner Beratung in den Feldern Steuern, Recht und Wirtschaftsprüfung an. Kandidaten mit Berufserfahrung seien seit Beginn der Pandemie deutlich zurückhaltender mit aktiven Bewerbungen und einem Wechselwunsch geworden als Absolventen und Berufseinsteiger, konstatiert Oliver Kanus, Partner und Mitglied des Managementboards bei Sonntag & Partner. „Insbesondere in Beratungsbereichen, die Spezial-Know-how erfordern, lässt sich ein Rückgang an proaktiven Bewerbungen feststellen“, sagt Kanus.
David Schwab, Geschäftsführer von Clients & Candidates – spezialisiert auf die Vermittlung von Juristen im Mid- Level- und Partnerbereich sowie Unternehmensjuristen – erlebt dies aus der Perspektive des Headhunters: „Die potenziellen Kandidaten sind derzeit im Home Office für uns gut erreichbar, aber die Wechselbereitschaft unter den erfahrenen und spezialisierten Juristen hat abgenommen“, sagt Schwab. Zudem seien die Ansprüche der Kandidaten durch die Corona-Pandemie eher gestiegen. Das Thema Arbeitsplatzsicherheit habe durch die Krise einen ganz neuen Stellenwert erhalten.
Corona-Gewinner Kanzlei-Mittelstand
„Die Unsicherheit in der Corona-Krise hat zu einer Werteverschiebung quer durch alle Karrierestufen geführt“, beobachtet Carina Knipping von Talentrocket. Die Frage, wie sicher ein Arbeitsplatz sei, hätten sich Bewerber in der Vergangenheit nicht stellen müssen. „Der deutsche Kanzlei-Mittelstand hat bei den Bewerbern deutlich an Attraktivität gewonnen, weil er sich als krisensicherer Arbeitgeber erwiesen hat“, sagt Knipping. Auch der öffentliche Dienst sei deutlich beliebter geworden.
Inzwischen hat sich die Situation am Arbeitsmarkt für Juristen wieder weitgehend normalisiert. In der Befragung von Talentrocket vom Herbst 2020 gab ein Großteil der Arbeitgeber an, 2021 wieder auf Vor-Corona-Niveau einstellen zu wollen. 30 Prozent planten sogar deutlich mehr Einstellungen als im Vorjahr oder strebten ein überproportionales Wachstum an.
Also ist im War for Talents bald alles wieder beim Alten? Da ist sich Knipping relativ sicher. Die Zahl der Nachwuchsjuristen mit zwei Staatsexamen sei seit der Jahrtausendwende um 40 Prozent gesunken. Allein im Staatsdienst müssten bis 2030 an die 10.000 Stellen nachbesetzt werden – „das ist mehr als ein ganzer Jahrgang“, sagt Knipping. Gleichzeitig nehme der Bedarf an Fachpersonal in Kanzleien, Rechtsabteilungen in Unternehmen und im öffentlichen Dienst stetig zu.
Onboarding im Home Office
Nicht nur der Bewerbermarkt, sondern auch der Recruiting-Prozess selbst hat sich durch die Corona-Pandemie verändert. Juristen-Messen und Inhouse- Recruiting-Veranstaltungen fielen aus oder wurden ins Netz verlagert. Vorstellungsgespräche finden seit über einem Jahr hauptsächlich per Videochat statt, auch das Onboarding der neuen Mitarbeiter erfolgt weitgehend im Home Office.
Viele Kanzleien sind überrascht, wie gut das digitale Recruiting funktioniert. Bei der Kanzlei GSK Stockmann kamen Videokonferenzen beim Auswahlverfahren früher nur vereinzelt zum Einsatz. Durch die Pandemie finden die Erstgespräche nun häufig digital statt. „Das virtuelle Kennenlernen eignet sich gut, um einen ersten Eindruck zu erhalten und Informationen auszutauschen“, sagt Inka La Ruffa, Leiterin des Bereichs Human Resources bei GSK Stockmann. Termine seien schneller möglich, da die Bewerber nicht extra anreisen müssten. Um letztlich aber eine Entscheidung zu treffen, ob man als Arbeitgeber und Kandidat zusammenpasse, finde das zweite Gespräch i.d.R. persönlich statt. GSK Stockmann lädt daher die Bewerber vor der finalen Entscheidung in das betreffende Büro ein, um einen Eindruck von der Kanzleiatmosphäre und Unternehmenskultur zu vermitteln und – unter Einhaltung der Hygienevorschriften – Teile des Teams vorzustellen. La Ruffa geht davon aus, dass sich ein „gesunder Mix“ aus digitalen und persönlichen Auswahlverfahren nach der Pandemie durchsetzen wird. „Corona hat uns gezeigt, wo virtuelle Formate helfen, aber auch, wo Grenzen sind.“ Die sieht La Ruffa auch beim Onboarding: Damit sich neue Mitarbeiter so schnell wie möglich als Teil des Teams fühlen, brauche es neben dem mobilen Arbeiten auch einen persönlichen Austausch.
Auch bei Sonntag & Partner sind die Erfahrungen zweigeteilt: „Digitale Vorstellungsgespräche und virtuelles Onboarding funktionieren. Trotzdem fehlen dabei wichtige Eindrücke“, sagt Tamara Klotz, verantwortlich für den Bereich Recruiting und Personalmarketing bei Sonntag & Partner. So falle es den Bewerbern schwerer, ein Bild von der Kanzleiatmosphäre, dem Team und den Räumlichkeiten zu bekommen. Der Austausch werde auf beiden Seiten um einen Teil der Körpersprache reduziert. „Allerdings sind Termine häufig flexibler und schneller möglich, da sie von jedem Ort aus funktionieren“, so Klotz.
Veränderungen von Dauer
Durch den fehlenden Kontakt zu den neuen Mitarbeitern wird nach dem Ende des Lockdowns noch einiges an „Beziehungsarbeit“ aufzuholen sein. Die Bindung und die Identifikation von Mitarbeitern, die in den vergangenen zwölf Monaten neu integriert wurden, dürften durch die Corona-bedingte Arbeit auf Distanz noch nicht so stark sein wie unter Arbeitsbedingungen ohne Kontaktbeschränkungen – trotz vieler kreativer Ansätze wie gemeinsamer digitaler Mittagessen und virtueller Teamevents.
Knipping sieht das weniger kritisch: „Unsere Auftraggeber sagen, dass der Recruiting- und Onboarding-Prozess derzeit gut funktioniert.“ Nicht nur die Auswahl der Mitarbeiter, sondern auch die gesamten Arbeitsabläufe und Kommunikationswege hätten sich in den vergangenen 18 Monaten geändert. Die Zusammenarbeit mit den Mandanten und im Team finde weitgehend digital statt. „Wir gehen davon aus, dass das auch nach dem Ende des Lockdowns so bleiben wird“, sagt Knipping. Dies wirke sich auch auf das Recruiting aus: Die Kanzleien könnten durch den aktuellen Digitalisierungsschub nun auch Mitarbeiter aus anderen Regionen anwerben, ohne dass diese umziehen müssten. Da die Mitarbeiter in Zukunft voraussichtlich ohnehin vor allem per Videochat kommunizierten, vermittle das digitale Vorstellungsgespräch ein gutes Bild des Bewerbers.
Illustration: Stefanie Schwary