Jahrzehntelang verließ sich die Wirtschaft auf ihre optimierten Wertschöpfungsketten. Die Covid-Pandemie und der Krieg in der Ukraine ließen den Traum von globalen Wertschöpfungsketten zerplatzen. Warum es kein „back to normal“ gibt und was Unternehmen jetzt tun können.
Das aktuelle Szenario hat etwas Groteskes: Trotz voller Auftragsbücher lassen sich die eigenen Umsatzziele nicht erreichen. Die Ursachen liegen in der Kombination aus fehlendem Material, strangulierenden Logistikengpässen und unplanbaren Personalausfällen, die derzeit bei international aufgestellten Serienfertigern die optimierten Lieferketten einer nie gekannten Belastungsprobe aussetzen. So hatte bereits die Corona-Pandemie für schwer kalkulierbare Lieferstörungen gesorgt, hinzu kam der Inflationsschub. Schließlich war es aber der russische Überfall auf die Ukraine, der die ganze Situation verschärfte. Man kann heute schon sicher sein, dass die russische Hemisphäre als Wirtschaftsmacht infolge der militärischen Aggression an Bedeutung verlieren wird, was zu einer nachhaltigen Beeinflussung der internationalen Lieferketten führen wird. Dieser toxische Cocktail beeinträchtigt bereits heute massiv die Lieferfähigkeit der Unternehmen und die Rentabilität der internationalen Wert- und Warenströme.
Volatilität schaukelt sich auf
Verstärkend kommt hinzu, dass Unternehmen im Ringen um ihre Versorgung versuchen, Bestellungen bei mehreren Quellen zu platzieren und Vorräte anzulegen. Das führt zu einer zusätzlichen Materialverknappung, was in der Phase einer einsetzenden Beruhigung die Umsätze aufgrund von Stornierungen und Bestandsabbau dahinschmelzen lässt. Man sollte sich freilich keinerlei Illusionen hingeben: Die Zeichen stehen auch für die kommenden Monate auf Sturm. Während etwa Zulieferer im Automotive-Sektor mit der Transformation der Antriebstechnik zu kämpfen haben, wird in der Post-Corona-Phase eine Reihe von Anbietern Probleme mit ihrer Refinanzierung bekommen. Zudem steht das Verhältnis des Westens gegenüber dem lange hofierten Akteur China auf dem Prüfstand. Der Absatzmarkt ist zwar gewaltig, dennoch werden weiterhin inländische Unternehmen bevorzugt, während ausländische Firmen einem anhaltenden systemischen Know-how-Abzug ausgesetzt sind. Die geopolitischen Verhärtungen durch den Aufbau von chinesischer Dominanz bei strategischen Gütern und Bezugsquellen sind offensichtlich.
Neue Zeiten brechen an
Das Ideal globaler Wertschöpfungsketten hat sich als Illusion entpuppt. Stattdessen gilt es für Unternehmen, über ihre Resilienz, ihre Wertschöpfungsketten oder die Preisgabe von Know-how neu nachzudenken. Wer jetzt noch von offenen Märkten und global optimierten Lieferketten träumt, darf nicht lamentieren, wenn ihn die Realität mit Exportbeschränkungen und dem Kampf um Ressourcen einholt. Die Zukunft wird von der Deglobalisierung mit relativ autarken, regionalen Wirtschaftskreisläufen geprägt sein, in denen sich Lieferketten robuster gestalten und wirksamer steuern lassen – auch in Bezug auf das Thema Nachhaltigkeit.
Natürlich klingt es vernünftig, anfällige Wertschöpfungsketten zu entflechten, Alternativen für kritische Elemente zu entwickeln, Reserven anzulegen, Zahlungskonditionen anzupassen und das Working Capital zu stärken. All das fördert die Resilienz. Aber die Unternehmen haben eine gegebene Wertschöpfungsstruktur und sind finanziell bereits erheblich belastet. Schließlich erfordern Umstrukturierungen ihren Preis. Sie kosten Zeit, Geld, binden Kapital, reduzieren die Produktivität und werden auf den Widerstand derer stoßen, die von der aktuellen Wertschöpfungsstruktur profitieren. Am Ende der Machtkämpfe um die Wertschöpfungsketten wird es Gewinner und Verlierer geben. Für die Unternehmen kommt es deshalb jetzt darauf an,
- ihre Geschäftsmodelle zu überdenken und daraus das Leistungsprogramm, die Zielmärkte und deren Bearbeitung abzuleiten; auch ein vorläufiger Wachstumsverzicht kann sich hier langfristig auszahlen;
- daraus die strategischen Kernstandorte und Dimensionen für Forschung und Entwicklung (F&E), Produktion und Vorratshaltung abzuleiten;
- den Mix aus Eigenfertigung und Fremdbezug sowie den regionalen Lieferantenmix zu definieren;
- das Personal zu qualifizieren, das Strukturprojekte umsetzen und im Tagesgeschäft mit geeigneten Systemen durchsetzen kann.
Mittelständler mit Spezialwissen und ihrem Kernstandort in Deutschland sowie Vertriebs- und Serviceeinheiten in bedeutenden Märkten können sich relativ schnell auf sichere Märkte wie Europa und die USA konzentrieren. Ansonsten gehen sie selektiv vor. Oft haben sie eine gute Lieferantenstruktur, die sie in der Vergangenheit eben nicht bis auf den letzten Cent ausgepresst haben.
Vor allem Konzerne unter Druck
Großunternehmen mit weltweit vernetzten Strukturen sowie F&E und Produktionskapazitäten in den bedeutenden Märkten müssen eine weitaus größere Komplexität bewältigen. Der rigorose Rückzug oder schnelle Umbau könnte für sie existenziell sein. Sie werden im Zuge einer langfristigen Transformation neue Schwerpunkte setzen und sich die Chance für Zeiten bewahren, in denen sich wieder die Erkenntnis durchsetzt, dass gute Geschäfte eine belastbare Gegenseitigkeit voraussetzen. Lager und Kassen sind derzeit vielfach leer, staatliche Hilfen endlich. Und dennoch steht – neben der Bewältigung des herausfordernden Tagesgeschäfts – dringend die strategische Neuausrichtung an. Die Warnsignale sind nicht zu übersehen.
robert.simon1@gmx.net
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