Das Ideal globaler Wertschöpfungsketten entpuppt sich als Chimäre

Beitrag von: Robert Simon
14. Juni 2022

Jahrzehntelang verließ sich die Wirtschaft auf ihre optimierten Wertschöpfungsketten. Die Covid-Pandemie und der Krieg in der Ukraine ließen den Traum von globalen Wertschöpfungsketten zerplatzen. Warum es kein „back to normal“ gibt und was Unternehmen jetzt tun können.

Das aktuelle Szenario hat etwas Groteskes: Trotz voller Auftragsbücher lassen sich die eigenen Umsatzziele nicht erreichen. Die Ursachen liegen in der Kombination aus fehlendem Material, strangulieren­den Logistikengpässen und unplanba­ren Personalausfällen, die derzeit bei in­ternational aufgestellten Serienfertigern die optimierten Lieferketten einer nie gekannten Belastungsprobe aussetzen. So hatte bereits die Corona-Pandemie für schwer kalkulierbare Lieferstörun­gen gesorgt, hinzu kam der Inflations­schub. Schließlich war es aber der rus­sische Überfall auf die Ukraine, der die ganze Situation verschärfte. Man kann heute schon sicher sein, dass die russi­sche Hemisphäre als Wirtschaftsmacht infolge der militärischen Aggression an Bedeutung verlieren wird, was zu einer nachhaltigen Beeinflussung der interna­tionalen Lieferketten führen wird. Dieser toxische Cocktail beeinträchtigt bereits heute massiv die Lieferfähigkeit der Un­ternehmen und die Rentabilität der internationalen Wert- und Warenströme.

Volatilität schaukelt sich auf

Verstärkend kommt hinzu, dass Unternehmen im Ringen um ihre Versorgung versuchen, Bestellungen bei mehreren Quellen zu platzieren und Vorräte anzulegen. Das führt zu einer zusätzlichen Materialverknappung, was in der Phase einer einsetzenden Beruhigung die Um­sätze aufgrund von Stornierungen und Bestandsabbau dahinschmelzen lässt. Man sollte sich freilich keinerlei Illusionen hingeben: Die Zeichen stehen auch für die kommenden Monate auf Sturm. Während etwa Zulieferer im Automotive-Sektor mit der Transformation der Antriebstechnik zu kämpfen haben, wird in der Post-Corona-Phase eine Reihe von Anbietern Probleme mit ihrer Refinanzierung bekommen. Zudem steht das Verhältnis des Westens gegenüber dem lange hofierten Akteur China auf dem Prüfstand. Der Absatzmarkt ist zwar gewaltig, dennoch werden weiterhin inländische Unternehmen bevorzugt, während ausländische Firmen einem anhaltenden systemischen Know-how-Abzug ausgesetzt sind. Die geopolitischen Verhärtungen durch den Aufbau von chinesischer Dominanz bei strategischen Gütern und Bezugsquellen sind offensichtlich.

Neue Zeiten brechen an

Das Ideal globaler Wertschöpfungsketten hat sich als Illusion entpuppt. Stattdessen gilt es für Unternehmen, über ihre Resilienz, ihre Wertschöpfungsketten oder die Preisgabe von Know-how neu nachzudenken. Wer jetzt noch von offenen Märkten und global optimierten Lieferketten träumt, darf nicht lamentieren, wenn ihn die Realität mit Exportbeschränkungen und dem Kampf um Ressourcen einholt. Die Zukunft wird von der Deglobalisierung mit relativ autarken, regionalen Wirtschaftskreisläufen geprägt sein, in denen sich Lieferketten robuster gestalten und wirksamer steuern lassen – auch in Bezug auf das Thema Nachhaltigkeit.

Natürlich klingt es vernünftig, anfällige Wertschöpfungsketten zu entflechten, Alternativen für kritische Elemente zu entwickeln, Reserven anzulegen, Zahlungskonditionen anzupassen und das Working Capital zu stärken. All das fördert die Resilienz. Aber die Unternehmen haben eine gegebene Wertschöpfungsstruktur und sind finanziell bereits erheblich belastet. Schließlich erfordern Umstrukturierungen ihren Preis. Sie kosten Zeit, Geld, binden Kapital, reduzieren die Produktivität und werden auf den Wi­derstand derer stoßen, die von der ak­tuellen Wertschöpfungsstruktur profitieren. Am Ende der Machtkämpfe um die Wertschöpfungsketten wird es Gewinner und Verlierer geben. Für die Unternehmen kommt es deshalb jetzt darauf an,

  • ihre Geschäftsmodelle zu überdenken und daraus das Leistungsprogramm, die Zielmärkte und deren Bearbeitung abzuleiten; auch ein vorläufiger Wachstumsverzicht kann sich hier langfristig auszahlen;
  • daraus die strategischen Kernstandorte und Dimensionen für Forschung und Entwicklung (F&E), Produktion und Vorratshaltung abzuleiten;
  • den Mix aus Eigenfertigung und Fremdbezug sowie den regionalen Lieferantenmix zu definieren;
  • das Personal zu qualifizieren, das Strukturprojekte umsetzen und im Tagesgeschäft mit geeigneten Syste­men durchsetzen kann.

Mittelständler mit Spezialwissen und ihrem Kernstandort in Deutschland so­wie Vertriebs- und Serviceeinheiten in bedeutenden Märkten können sich rela­tiv schnell auf sichere Märkte wie Euro­pa und die USA konzentrieren. Ansons­ten gehen sie selektiv vor. Oft haben sie eine gute Lieferantenstruktur, die sie in der Vergangenheit eben nicht bis auf den letzten Cent ausgepresst haben.

Vor allem Konzerne unter Druck

Großunternehmen mit weltweit vernetz­ten Strukturen sowie F&E und Produk­tionskapazitäten in den bedeutenden Märkten müssen eine weitaus größere Komplexität bewältigen. Der rigorose Rückzug oder schnelle Umbau könnte für sie existenziell sein. Sie werden im Zuge einer langfristigen Transformation neue Schwerpunkte setzen und sich die Chance für Zeiten bewahren, in denen sich wieder die Erkenntnis durchsetzt, dass gute Geschäfte eine belastbare Ge­genseitigkeit voraussetzen. Lager und Kassen sind derzeit vielfach leer, staat­liche Hilfen endlich. Und dennoch steht – neben der Bewältigung des herausfor­dernden Tagesgeschäfts – dringend die strategische Neuausrichtung an. Die Warnsignale sind nicht zu übersehen.

Illustration: 123rf.com/fandijki

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